Vorgestern, als ich über den Lehrtext nachdachte, fiel mir auf, dass die Bilder von der Herde und ihrem Hirten immer auch etwas leicht Entmündigendes in sich tragen. Natürlich darf Gemeinde auch Kuschelgruppe sein. Und unser Gottesbild stellt uns Gott zurecht als überlegen dar im Vergleich zu den Machtansprüchen aller sogenannten Machtmenschen der Welt. Diese dort verborgene Kritik gefällt mir sehr. Der älteste Gebetsruf, den die ganz junge Christenheit für den auferstandenen Jesus hat, ist eben auch „Kyrios / Kyrie“, Herr. Darauf kann ich auch vor dem Hintergrund von gendergerechten Interessen nicht verzichten. Er ist der Herr und setzt die Maßstäbe, und die sind ganz anders und neu und gerecht und schließen alle Menschen ein.
Heute aber sind Losung und Lehrtext ganz aus der Perspektive mündiger und selbstbewusst glaubender Menschen gewählt.
Der kluge Machtpolitiker Daniel wird von seinem König Darius in eine Löwengrube eingesperrt, weil er gegen das Gesetz der „Perser und Meder“ verstoßen hat. Daniel befand sich in einem politischen Machtkampf und seine Konkurrenten hatten dieses Gesetz ausschließlich in Kraft gesetzt, um Daniel der religiösen Illoyalität gegenüber dem Großkönig anklagen zu können. Aus dieser Falle und der Löwengrube kann sich Daniel durch Vertrauen in Gott retten. Die Löwen werden von einem Engel ruhiggestellt und der Großkönig ist hinterher auch dem Gott Daniels sehr dankbar.
Das Danielbuch ist das jüngste Buch der hebräischen Bibel. Es ist eine Art „historischer Roman“ über den weisen und klugen Daniel im Perserreich, mit vielen apokalyptischen Bilder und Vorstellungen, die im fünften Jahrhundert spielen sollen, aber gleichzeitig gut in die politische Situation des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts passen, als das Buch verfasst wurde.
Ganz anders der erste Brief des Paulus an seine Gemeinde in Korinth. Er ist ein realer Brief, geschrieben von Paulus, der sich inzwischen in Ephesus aufhielt. Am Ende der Korrespondenz beginnt Paulus seine Grüße mit den Worten des Lehrtextes.
Das traut er seiner Gemeinde zu. Es fehlt aber noch die Fortsetzung: „All eure Dinge lasst in der Liebe geschehen.“ Das ist mündiger, selbstbewusster Ausdruck des Glaubens. Wach blieben, wissen, was man glaubt, mutig und stark dazu stehen und alles in Liebe erleben, aushalten, gestalten.
Gerade in schwierigen Zeiten schwanken Menschen zwischen emotionalen Extremen. Mal fühlen wir uns wie die kleine Herde, „Gottes Gurkentruppe“, wie es 2019 auf dem Abschlussgottesdienst des Kirchentags in Dortmund so treffend hieß. Und mal sind wir Bürger*innen Korinths, denen Paulus alles zutraut: Mut, Glaubensüberzeugung, Gegenwartsbezug und die Kraft der Liebe.
(von: Wiebke Köhler, Ev.-luth. Kirchengemeinde Einbeck)